Die chemische Industrie ist ein Grundpfeiler der europäischen Wirtschaft: Mit 655 Mrd. € Jahresumsatz (2023) und 1,2 Mio. direkt Beschäftigten ist sie der viertgrößte Industriezweig der EU und in über 96% aller Industrieprodukte involviert. Doch die Branche steht unter Druck: Seit 2003 hat sie 50% ihres globalen Marktanteils verloren, in den letzten zwei Jahren wurde die Schließung von über 20 Produktionsstandorten angekündigt. Die Wettbewerbsfähigkeit ist durch hohe Energie- und Rohstoffpreise, geopolitische Spannungen und sinkende Marktnachfrage geschwächt.
Als Reaktion hat die Europäische Kommission den „European Chemicals Industry Action Plan“ vorgelegt. Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit der Branche zu sichern, ihre Transformation voranzutreiben und sie zugleich resilienter, nachhaltiger und innovationsfähiger zu machen. Die Strategie umfasst vier zentrale Handlungsfelder: Resilienz stärken, Energieversorgung sichern und Dekarbonisierung fördern, Leitmärkte und Innovationen schaffen sowie regulatorische Hürden abbauen.
1) Stärkung der Resilienz
Bis Ende 2025 plant die Kommission den Aufbau einer „Critical Chemicals Alliance“, um kritische Produktionsstandorte in Europa zu sichern und Investitionen zu koordinieren. Auch biobasierte und biotechnologische Lösungen sollen gezielt gefördert werden – etwa durch ein IPCEI (Important Project of Common European Interest) für biotechnologische Wertschöpfungsketten und die Unterstützung regionaler Innovationscluster.
2) Energie, Rohstoffe und Dekarbonisierung
Die EU-Chemieindustrie ist in doppelter Hinsicht von fossilen Ressourcen abhängig – sowohl als Energiequelle als auch als Rohstoffbasis. Das macht die Branche besonders anfällig für Preisschwankungen und Störungen globaler Lieferketten. Der Aktionsplan adressiert das durch mehrere Maßnahmen.
Leistbare Energieversorgung: Über das CISAF – Clean Industrial Deal State Aid Framework – sollen Strompreishilfen für energieintensive Unternehmen ermöglicht werden. Voraussetzung dafür sind Investitionen der Unternehmen in die Dekarbonisierung – etwa in Elektrifizierung, Biomasse, CCUS oder Wasserstoff. Der geplante „Industrial Decarbonization Accelerator Act“ soll Genehmigungsverfahren für grüne Industrieprojekte vereinfachen und den Netzanschluss für elektrifizierte Chemieanlagen verbessern.
Förderungen: Parallel investiert die EU über Programme wie Horizon Europe, den Innovationsfonds und InvestEU Milliarden in Forschung, Infrastruktur und marktreife Projekte. Ein geplanter „Competitiveness Fund“ soll Dekarbonisierungsmaßnahmen zusätzlich fördern.
Stärkung der Bioökonomie: Ein zentrales Element ist die stärkere Nutzung biobasierter Rohstoffe. Werden diese lokal gewonnen und nachhaltig eingesetzt, können sie fossile Stoffe ersetzen und Emissionen senken. Die für Ende 2025 geplante Bioökonomiestrategie soll Innovationen stärken, biobasierte Materialien als Alternative etablieren und den Zugang zu Biomasse erleichtern. Auch eine freiwillige Kennzeichnung biobasierter Produkte ist vorgesehen.
Kreislaufwirtschaft: Um Kunststoffabfälle besser als Rohstoffquelle zu nutzen, sind neue Regelungen für chemische Recycling geplant, etwa eine klare Massenbilanzregelung. Der für 2026 geplante „Circular Economy Act“ soll Angebot und Nachfrage für Sekundärrohstoffe stärken und einen Binnenmarkt für Abfälle schaffen.
CCUS-Technologien: Für schwer elektrifizierbare und dekarbonisierbare Prozesse, sind Technologien zur CO2 -Abscheidung und Nutzung (CCUS) essenziell. Geplant ist ein EU-Rechtsrahmen für CO2 -Märkte und Infrastruktur. Im Rahmen des „Net Zero Industry Act“ sollen Öl- und Gaskonzerne die EU-2030 Ziele zur CO2 -Speicherung erfüllen. Die ETS-Überarbeitung 2026 prüft zudem, wie temporär gebundenes CO2 im Emissionshandel berücksichtigt und dauerhafte CO2 Entnahme als Ausgleich für Restemissionen anerkannt werden soll sowie die Aufnahme der Abfallwirtschaft in den ETS.
3) Leitmärkte und Innovation
Investitionen in nicht-fossile Rohstoffe und grüne Technologien scheitern oft an fehlender Nachfrage. Mit dem „Industrial Decarbonization Accelerator Act“ plant die EU Ende 2025 neue Nachhaltigkeits- und Resilienzkriterien einzuführen. Ergänzend empfiehlt die Kommission steuerliche Anreize, etwa Steuergutschriften für grüne Technologien und schnellere Abschreibungen für klimafreundliche Industrieanlagen.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung nachhaltiger Alternativen, z.B. biobasierte oder biotechnologische Stoffe. Neue EU-weite Innovations- und Substitutionszentren sollen Unternehmen dabei unterstützen und Partnerschaften fördern. Das überarbeitete „Safe and Sustainable by Design“-Rahmenwerk und 120 Mio. Euro aus Horizon Europe sollen die Entwicklung umweltfreundlicher Chemikalien fördern. Zusätzlich ist ein „Advanced Materials Act“ zur Förderung nachhaltiger Materialien entlang der gesamten Wertschöpfungskette geplant.
4) Vereinfachung der Rahmenbedingungen
Mit dem sechsten Vereinfachungspaket 2025 (simplification Omnibusse) plant die EU, das Chemikalienrecht zu vereinfachen – darunter etwa die CLP-, Düngemittel- und Kosmetikverordnung.
Auch der bürokratische Aufwand im Umweltrecht soll verringert werden. In der Landwirtschaft soll der Einsatz biologischer Mittel – zum Beispiel Biopestizide – durch einen leichteren Marktzugang gefördert werden.
Im Umgang mit PFAS (per- und polyfluorierende Alkylsubstanzen oder „Ewigkeitschemikalien“) plant die Kommission einen schrittweisen Ausstieg, besonders bei Verbraucherprodukten wie Lebensmittelverpackungen oder Kosmetika. Kritische Anwendungen, etwa in der Medizin, bleiben möglich, sofern Emissionen über den gesamten Lebenszyklus reduziert werden. Innovative, auch biobasierte, Technologien sollen gezielt über die Bioökonomiestrategie gefördert werden.
Darüber hinaus sind Anpassungen bei der EU-Taxonomie (Do No Significant Harm-Kriterien), der Chemikalien-Verordnung REACH und der europäischen Chemikalienagentur ECHA geplant, um Prozesse zu vereinfachen und Verfahren zu beschleunigen.
Zusammenfassend markiertder „European Chemicals Industry Action Plan“ einen wichtigen Schritt zur Neuausrichtung der Chemiebranche in Europa. Ziel ist es, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und gleichzeitig Klimaschutz, Innovation und Resilienz zu stärken. Gerade biobasierte Lösungen und neue Technologien eröffnen Chancen für mehr Klimaschutz, Innovationskraft und regionale Wertschöpfung.